
Im berühmten Höhlengleichnis Platons sind Menschen von Geburt an in einer Höhle gefesselt und können seither nur die Schattenbilder bewegter Objekte betrachten, welche auf die Wand der Höhle projiziert werden, wie ein endloser Film. Diese Menschen sind überzeugt davon, dass die Schattenbilder die Realität darstellen, denn sie kennen keine Welt außerhalb der Höhle. Sie leben völlig zufrieden und haben sich ganz mit dieser Situation abgefunden, ohne jemals zu versuchen, sich von den Fesseln zu lösen oder ausbrechen zu wollen, da sie nichts anderes kennen als diese Höhlenwelt und sich sicher fühlen in dieser Höhle – und sich absurderweise sogar frei fühlen. Sie interpretieren in großem Wetteifer die Schattenbilder und erstellen dadurch ihr eigenes Weltbild. Wenn sie draußen, außerhalb der Höhle, die Welt sehen könnten, würden sie verstehen, dass die Schattenbilder gar nicht die Realität darstellten und sie eingesperrt in einer Scheinwelt lebten.
Eine Person kann sich jedoch befreien und verlässt die Höhle zum ersten Mal. Gewohnt an die Dunkelheit und Schatten der Höhle wird sie nun vom Licht der Sonne geblendet, welches sie eine neue Welt erkennen lässt.
Das Höhlengleichnis, in der hier leicht veränderten Form, wird nicht nur zum Sinnbild für den philosophierenden Menschen, der eine neue Wahrheit entdeckt, sondern auch zum Sinnbild für die Kreativität des Menschen. Wenn nämlich die Person nicht etwa von einer außenstehenden Person dazu gebracht wird die Höhle zu verlassen, sondern sich selbst befreit und die Höhle aus eigenem Willen verlässt, und dadurch seine neue Welt entdeckt (kreiert).
Wie kann aber ein Mensch, der in diesem Gefängnis geboren und aufgewachsen ist, sich jemals befreien? – wenn er doch nichts weiß von der Außenwelt! Woher kommt die Inspiration ausbrechen zu wollen? Wie schafft es diese eine Person überhaupt sich von den Fesseln der Normalität und Gewohnheit zu befreien und die Höhle zu verlassen? Vielleicht ist es ein Gefühl des Leidens, das sie inspiriert umzudenken? Was bewegt die Person dazu, wenn sie doch nur die Schattenbilder der Höhle kennt, welche sie für die Realität hält? Wie kommt sie auf den Einfall, dass es überhaupt etwas außerhalb der Höhle gibt? Wie kann sie sich etwas vorstellen, das außerhalb ihrer gegenwärtigen Realität steht? Das ist die Grundfrage der Kreativität und wird durch die Inspiration beantwortet. Wahrscheinlich kein anderes Gleichnis könnte so gut die Frage aufwerfen woher die Inspiration kommt für etwas? Woher der freie Wille kommt, einen neuen Weg zu gehen, aus der Höhle? Es hat sicherlich etwas mit der Fähigkeit zur Phantasie zu tun – die Fähigkeit sich etwas vorzustellen, das man noch nicht erlebt hat, oder gesehen, oder gehört… (etwas zu schreiben, das man noch nicht gelesen hat). Die Phantasie ist ein kreativer Akt der Inspiration und durch diese Phantasie öffnet sich ein Weg aus der Höhle, durch die eigene Vorstellungskraft, bevor man diese jemals verlassen hat! Derjenige, der zum ersten Mal die Höhle verlässt, nimmt den ersten Schritt als neuer Mensch, weil er inspiriert ist von mehr als seiner Höhle – weil er vielleicht sogar der Einzige ist, der in dieser Höhle leidet, und deshalb sich alleine nach draußen wagt, trotz der angeblichen Sicherheit und sozialen Akzeptanz und Bestätigung, die ihm die Höhlenwelt gibt. Doch aus der Höhle entfliehen, wird man erst können, wenn sich der eigene Wille auf etwas bezieht, das sich außerhalb dieses Gefängnisses befindet. Solange sich die Vorstellungskraft und der eigene Wille des Gefangenen nur auf Dinge beziehen, die es innerhalb der Gefängnisgrenzen (Höhle) gibt, solange wird sich der Mensch nicht befreien können – sich aber vielleicht sogar als frei betrachten, da er all die Möglichkeiten innerhalb des Gefängnisses sieht und wahrnimmt, aber nicht jene Möglichkeiten welche außerhalb des Gefängnisses stehen. Die Phantasie überwindet diese Grenzen! Albert Einstein benutzte zum Beispiel phantasievolle Gedankenexperimente über die Relativität von Zeit und kam so auf eine Theorie, welche die Welt der Wissenschaft revolutionierte! – er bewegte sich aus der Höhle der klassischen Physik – und jeder, der ihm folgte nach draußen, in eine neue Welt der Physik, war zuerst geblendet vom Licht der Sonne – welche die neue Erkenntnis war. Sie mussten lernen, um zu verstehen. Niemand vor ihm dachte auf diese Weise über die Zeit nach – in seiner Phantasiekonnte er eine Theorie aufbauen, um sie dann in der Realität zu prüfen. Für die Wissenschaft bedeutet das: die Hypothese entsteht in der Höhle um diese zu verlassen und sich von den Fesseln zu befreien, aber nach draußen geht es erst durch das Experiment (Umsetzung), das die Hypothese bestätigt und die neue Theorie formt – oder nach draußen gehen ist das Experiment!
Die Inspiration ist wie ein imaginärer Lichtstrahl, der von außen in die Höhle scheint und den Weg aus der dunklen Höhle aufzeigt.
Jeder Lernprozess ist ein Prozess, bei dem wir uns aus unserem Gefängnis oder der platonischen Höhle befreien, denn hier erreichen wir etwas, das wir noch nicht wissen – erreichen also ein neues Land, mit neuen Möglichkeiten, durch das erlernte Wissen und befreien uns dadurch! Lernen ist, auch wenn es sich um altes Wissen handelt, ein kreativer Akt für den Einzelnen, weil es ein neues Konstrukt der Welt bildet für das einzelne Individuum, wenn z. B. ein Lehrer einem Schüler etwas beibringt – der Lehrer hilft ihm aus der platonischen Höhle, aber den Weg nach draußen muss der Schüler aktiv und intellektuell kreativ selbst gehen, um neues Wissen zu erreichen (Lernen). Genauso ist der Künstler ein Lehrer, der dem Kunsterlebenden nicht etwa ein Gefühl präsentiert, sondern im Kunstwerk einen Weg aufzeigt, den man selbst gehen muss (in der Auseinandersetzung, persönlichen Interpretation der Kunst), zur Befreiung der eigenen inneren Gefühle. Wir überwinden unser Nicht-Wissen, weil wir davor schon inspiriert sind von den Möglichkeiten, die uns das Wissen bietet. Das Lernen transformiert den Menschen, aber nur, wenn es auch eine sinnvolle Anwendung gibt, die man im Voraus nicht immer unmittelbar erkennen kann, aber durch die Inspiration in Form von Neugierde und Interesse nur erahnen kann. So erreicht der Mensch etwas in seinem Intellekt, das er zuvor noch nicht erreicht hatte. Gedanklich schreibt er etwas, das er selbst noch nicht gelesen hatte – und weil seine ganze Welt abhängt von seinen Gedanken, so nimmt er die Welt in neuem Licht wahr, und kann diese transformieren, verändern und gestalten!
Bei jedem Lernen stoßen wir erst an die Mauer des Nicht-Verstehens, der Verwunderung, der Unmöglichkeit – um dann zu lernen, zu verstehen und zu wissen. Wir stoßen nicht auf Grenzen weil dort der Weg aufhört, sondern weil dort ein potentieller, neuer Weg anfängt, den man sich erkämpfen muss. Nur wer ein Problem erkennt, kann es lösen, nur wer an die Grenze stößt, kann sie überwinden!
Oder anders gesagt:
Die Freiheit fängt mit dem Erkennen der Grenzen an! – Erst wenn man begreift, was einen aufhält, kann man dagegen ankämpfen und kommt voran. So wie das Wissen nicht mit der Antwort anfängt, sondern mit der Frage!
Jedoch kommt es in der Gesellschaft vor, und es entsteht die Ironie, dass wir uns im Kampf um die Freiheit gegenseitig einsperren – und plötzlich keiner mehr frei ist. Dies geschieht vor allem, wenn das einzelne Individuum nur noch dem auferlegten Willen einer Gesellschaft nachgeht (z.B. politisch, ideologisch, familiär) und nur noch davon seine Freiheit abhängig macht oder definiert und seine eigenen Ziele vergisst und seinen eigenen Willen verlernt – ein gesellschaftliches Stockholm-Syndrom, bei dem der Mensch etwas will, das ihn eigentlich einsperrt! Wie ist es aber, wenn man mit der eigenen Freiheit, andere davon abhält ein möglichst freies Leben zu führen. Kann jemand wirklich frei sein, wenn er dadurch andere einsperrt, oder lebt dieser dann in Wirklichkeit auch eingesperrt in der Abhängigkeit zu den Eingesperrten? Nicht jeder Fortschritt einer Gesellschaft bleibt für immer ein Fortschritt, wenn seine Idee und Vorstellung sich nicht mit der Zeit weiterentwickelt – durch den intellektuellen Diskurs, durch politische Debatten, durch Meinungsfreiheit. Jede große, geniale Idee kann gut oder schlecht sein – es kommt auf den Menschen an, wie er diese einsetzen möchte. So kann zum Beispiel jemand Wissen auswendig lernen und es trotzdem in keiner Weise verstehen, weil die Frage und der Weg, die ursprünglich zu dem Wissen führte und dessen sinnvolle Problemlösung und Bedeutung völlig außer Acht gelassen wurde. Es geht nicht darum, was wir alles wissen und ob wir wissen, sondern wie wir unser Wissen verwenden und was wir damit erreichen wollen!
Auf eine gute Weise machen bestimmte Begrenzungen oder Einschränkungen aber auch erfinderisch und fördern die künstlerische Kreativität – sie inspirieren. Wenn ein Künstler improvisieren muss, weil er nicht mehr alle unterschiedlichen Farben parat hat, entsteht kein buntes, gewöhnliches Bild, aber ein außergewöhnliches, ausdruckstarkes Bild, das eine Farbe besonders betont! Er malt ein Bild, das andere Künstler mit der vollen Möglichkeit an Farben nie gemalt hätten. Dadurch überwindet er diese Einschränkung und benutzt sie zu seinem Vorteil, weil er sich trotz der Einschränkungen nicht davon abhalten lässt ein schönes Bild zu malen (zu leben) und sein Ziel zu erreichen – sich zu verwirklichen. Auch wenn der Mensch in seiner Freiheit eingegrenzt wird, kommt es darauf an, was er aus seinen Möglichkeiten, die er hat, macht, um seine Ziele zu erreichen und ein glückliches Leben zu führen. Ein guter Künstler gibt nicht auf, nur weil er nicht alle Farben parat hat, aber improvisiert – und malt weiter! Und sogar ein Mensch in scheinbar völliger Freiheit, mit allen Möglichkeiten, kann davon nie alle Möglichkeiten wahrnehmen (umsetzen, verwenden, realisieren), sondern muss sich in seiner unbegrenzten Wahl an Möglichkeiten selbst einschränken, muss sich entscheiden für das eine und gegen alles andere, eine Meinung haben und nicht alle, eine Sache machen und nicht alle anderen versuchen – weil er inspiriert ist von seinem Willen zum Leben, und er die Grenze in seinen unbegrenzten Möglichkeiten bereits erkannt hat, nämlich die Tatsache, dass er irgendwann sterben wird! Dass er nur eine begrenzte, unbekannte Anzahl an Tagen zur Verfügung hat die Möglichkeiten der Welt wahrzunehmen. Erst durch dieses reale Erkennen der Grenze des Lebens (des Todes) entsteht in ihm ein Wille zur Freiheit – und er überwindet diese Grenze indem er anfängt wirklich zu leben – und erst in diesem Sich-verwirklichen findet er sein Glück. Erst durch das bewusste Erkennen dieser Grenze, bleibt der Tod nicht länger die Begrenzung, aber wird viel mehr zum Antrieb und der Inspiration für ein glückliches und erfülltes Leben – mit Momenten der Unendlichkeit, ohne Raum und Zeit!